Darum bin ich nicht verpflichtet, dir meine Tattoos zu erklären

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 Photo by Annie Spratt on Unsplash

Der eine ist zu dick, der andere zu dünn, der nächste zu bunt tätowiert und die Frau da hinten trägt – oh Schreck – ein Kopftuch. Den ganzen Tag urteilen Menschen über andere, allein anhand ihres Aussehens. Aber warum ist uns das so verdammt wichtig? Und was macht das eigentlich mit uns?

 

Das Aussehen ist das, was ich als Erstes wahrnehme. Ich sehe einen Menschen und entscheide innerhalb von Sekunden, ob mir dieser Mensch gefällt. Aber muss ich deswegen eigentlich direkt die Schublade aufmachen und diesen Menschen einsortieren?

Neulich saßen wir in der Kantine zusammen. Und Kollege A – nennen wir ihn der Einfachheit mal Marc – fängt an, sich über die Tattoos von Kollege B – nennen wir ihn Aaron – zu echauffieren. Behauptung Nr. 1 von Marc ärgert mich bereits. „Du hast doch nur Tattoos, weil du auffallen möchtest.“ Und darauf folgt:“Bist du jetzt was Besonderes?”
Da auch ich – ebenso wie Kollege Aaron – stärker tätowiert bin als der Durchschnitt, habe auch ich diese Theorien schon tausendfach gehört. Meistens entlocken sie mir nur ein Gähnen, aber da Marc mir eh schon auf den Zeiger geht, ärger ich mich doch wieder.

Jetzt noch einmal für alle: Nein, wir lassen uns nicht tätowieren, um aufzufallen. Wir lassen uns tätowieren, weil wir es schön finden. Punkt.

Aber es ist erst Aussage Nr 2, die mich so richtig auf die Palme bringt. „Jetzt erklär doch mal, was das da sein soll. Wenn man schon so rumläuft, dann ist man schließlich verpflichtet, das anderen zu erklären.“
Nein, Marc, einfach nein. Das ist man nicht. Niemand auf der ganzen Welt ist verpflichtet zu erklären, warum er oder sie tätowiert ist. Oder ein Kopftuch trägt. Oder eine Hotpants. Oder nur schwarze Kleidung. Oder nur hohe Schuhe. Oder warum sie abends vor die Tür geht, oder warum er lieber mit sich allein ist… Oder, oder, oder.
Überraschung: Ich habe mich freiwillig entschieden, mich tätowieren zu lassen. Aber andere stehen ständig in der Kritik, einfach weil sie sind, wie sie sind. Weil sie People of Color sind, oder besonders klein gewachsen oder besonders groß oder warum auch immer sie irgendwo aus der Masse herausstechen.

Wer über andere urteilt, gibt viel mehr über sich selber preis

Warum mich das so ärgert? Weil Menschen wie Marc übergriffig sind und es nicht einmal merken. Sie denken, ich wäre ihnen irgendetwas schuldig. Zumindest eine Erklärung. Aber das bin ich nicht. Und wenn ich mir einen Penis auf die Stirn tätowieren lasse, muss ich es dir immer noch nicht erklären, lieber Marc. Denn es geht dich nichts an. Gar nichts.
“Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind” – sagen die Philosophen Epikur oder Marc Aurel. Und ich glaube, dass hier genau das Problem bei Menschen wie Marc liegt. Aus irgendeinem Grund denken sie, sie stünden über den Dingen. Und über uns anderen Menschen in ihrem Umfeld. Sie erhöhen sich selbst und erniedrigen im selben Maße alle um sie herum, vor allem diejenigen, die nicht in ihr Weltbild passen. Und sie sind dabei so selbstgerecht, dass sie nicht einmal merken, wie intolerant das ist.

Dein Kind ist anders als meins

Andere Geschichte, selber Hintergrund. Meine Freundin ist eine deutsche Konvertitin. Sie ist eine unglaublich intelligente, selbstbewusste und emanzipierte Frau. Sie hat einen Marokkaner geheiratet und ist zum Islam konvertiert. Und Überraschung – sie ist noch immer dieselbe. Einziges Problem: Sie lebt in einer deutschen Kleinstadt in der hessischen Provinz. Jahrelang trägt sie ein Kopftuch und fühlt sich gut damit. Bis sie einen kleinen, wunderbaren Sohn bekommt. Denn als dieser größer wird, bekommt sie das Vorverurteilen anderer Mütter am eigenen Leib zu spüren.
Auf dem Spielplatz werden andere Kinder von ihrem Kind weggezogen. Sie sollen nicht mit dem Ausländerkind spielen. Im Kinderturnen, wo andere Mütter miteinander schwätzen, während die Kleinen toben, bleibt sie außen vor. Wird sie bei Freundinnen eingeladen, ignorieren andere Mütter sie komplett. Sie wird zur Hülle. Wird nicht mehr als gleichwertiger Mensch wahrgenommen. Wird ignoriert, unterschätzt oder gemieden.

Und alles nur wegen ihrem Kopftuch.

Seit ein paar Wochen trägt meine Freundin das Kopftuch nicht mehr. Wegen ihres Sohnes. Sie möchte nicht, dass er ein Außenseiter bleibt. Und ich kann das verstehen. Aber ich finde es so falsch. Nicht ihren Schritt, sondern dass andere Menschen sie dazu bringen. Das andere Menschen sie nicht so akzeptieren. Dass sie sich über sie hinweg setzen und ihre Gefühle dermaßen verletzen und es wieder einmal nicht mal merken.

Woher kommt das, dass wir so besessen vom Aussehen anderer sind?

Psychologen sagen, dass besonders selbstkritische Menschen auch andere oft kritisieren. Die Gründe hierfür lägen in der Kindheit. Solche Menschen seien als Kinder selbst oft kritisiert worden. Und in jungen Jahren hinterlässt das eben besonders starke Spuren auf der Seele. Werden diese Kinder dann älter, werden sie selber oft zu sehr kritischen Menschen. Das mag eine Erklärung für Menschen wie Marc sein. Aber was ist mit dem großen Rest? Wir sind doch nicht alle Narzissten?

Können wir nicht einfach versuchen, mal mit etwas offeneren Augen durch die Welt zu gehen? Gerade jetzt, nach dem Erfolg der AfD in der #btw17 sollten wir, die anderen #87% uns darauf besinnen, dass es unsere Vielfalt ist, die uns stark macht.

 

 

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4 responses to “Darum bin ich nicht verpflichtet, dir meine Tattoos zu erklären”

  1. Danke für diesen Artikel 💙
    Ich hoffe auf die 87% und darauf, dass wir unseren Kindern beibringen können offen zu bleiben für die vielen tollen Menschen da draußen.

  2. Da gebe ich dir in allen Punkten recht. Ich komme aus einer Großstadt, meine Freundin vom Dorf. Da war es mal monatelang Thema, als ich es gewagt hatte, am Sonntag mit Jogginghosen aus dem Haus zu gehen. Ich hasse Vorverurteilungen aufgrund des Aussehens/ Kleidung/ Tattos usw. Zum Glück wurde ich anders erzogen und habe einen bunten Freundeskreis.

    1. Schlimm, oder? Was geht das die Leute an, frag ich mich immer?

  3. Wenn die keine anderen Sorgen haben, lasse reden 😉

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